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(September 1999)

Die Renate Kern-Story

von Axel Schock

An einem Samstagnachmittag im Jahr 1964 nimmt alles seinen Anfang. Im Lokal "Zum Sonnenstein" in Harpstedt, zwischen Delmenhorst und Wildeshausen, ist wieder einmal ein "JeKaMi"-Abend: "Jeder Kann Mitmachen". Auch Renate Poggensee beteiligt sich an diesem Talentwettbewerb. Renate singt und hat ihr Publikum im Griff. Sie muss sogar noch Zugaben geben. Im Publikum sitzt Kai Warner, Produzent bei Polydor Hamburg und Bruder von James Last.

Renate Kern

Er hört ihre tiefe, kehlige Stimme und ist begeistert. Warner nimmt sie mit nach Hamburg und produziert mit ihr die erste Single. Die A-Seite "Kiss and Shake" ist ein Rock'n'Roll-Titel ganz im modischen Beat-Sound der Zeit, die musikalisch von den Rolling Stones und den Beatles geprägt ist. Die Platte kann sich in der Hitparade platzieren. Nachhaltig erfolgreicher ist allerdings die B-Seite: "Die Welt ist so schön wie ein Traum", ein sanfter, versöhnlicher Schlager. Damit ist der Weg ihrer Karriere vorgezeichnet. Sie widmet sich nicht weiterhin dem Beat, wie etwa Drafi Deutscher und Peter Kraus, sondern wird als Renate Kern zum Schlagerstar.

Als sich "Kiss And Shake" in den Hitparaden platziert, ihr Name zum ersten Male mit großen Fotos in den Illustrierten auftaucht, steht die frischgebackene Abiturientin beim Kaufhof hinter der Ladentheke in der Miederabteilung. Sie hat sich für eine Ausbildung zur Textilverkäuferin entschieden - weil sie schon immer gerne genäht hatte und die Lehre Sicherheit bieten sollte. Von ihrer ersten Gage kauft sie sich eine Nähmaschine.

Renate Kern 2

Geboren wurde sie am 23. Januar 1945 als Renate Poggensee in Thann/Rhön und wächst in der Kleinstadt Wildeshausen bei Bremen auf. Ihre Mutter Gertrud ist eine Cafehaus-Pianistin, der Vater Wissenschaftler und Erfinder. Er arbeitet in der Raketenforschung und entwickelte u.a. die V-2-Raketen mit. In einem Lebenslauf beschreibt Renate Kern ihr Familienhaus als "Versuchsgelände mit Holzhäuschen (36 qm incl. Vorbau, Pumpe, Zinkwanne, Eimerklo)." Bei einem Versuch sprengt Karl Poggensee das kleine Anwesen in die Luft und hat fortan in der Familie nicht mehr viel zu sagen.

Als Kind erhält Renate von der Mutter Klavierunterricht, später bringt sie sich das Gitarrespielen bei. Bereits in frühen Jahren begleitet Renate ihre Mutter bei Bühnenauftritten mit der Gitarre. Die Gagen: Pralinen und Schokoladentafeln. 1962 geht sie für ein Jahr als Austauschschülerin in die USA.

Ein Discjockey nimmt mit ihr in Detroit einige Lieder auf Band auf und stellt sie in seinem Radioprogramm vor.

Knapp vier Jahre später schon ist Renate Kern mit drei erfolgreichen Singles eine etablierte Sängerin auf dem deutschen Plattenmarkt. Die "BRAVO-Plattenschau" schreibt 1966:

"Könnte sein, dass Renate Kern bald die bescheidene Liste der wirklich populären einheimischen Schlagersängerinnen um einen Namen von Klang und Können verlängert...". 1968 nimmt sie mit "Lieber mal weinen im Glück" beim Deutschen Schlagerwettbewerb teil und landet auf einem Platz in den hinteren Rängen. Die Platte verkauft sich allerdings besser als alle anderen Wettbewerbstitel. Zum ersten und einzigen Mal hat Renate Kern einen Top-Ten-Hit. Bei der alljährlichen "BRAVO"-Umfrage nach der beliebtesten Sängerin des Jahres landet sie auf dem 12. Platz - noch vor Gitte, Peggy March und Marion. Mit dem von ihr selbstgetexteten Lied "Du musst mit den Wimpern klimpern" ist Renate Kern 1969 bei der allerersten ZDF-Hitparade von Dieter Thomas Heck mit dabei.

Renate Kern 3

1970 hat Renate Kern den Höhepunkt ihrer Karriere erreicht: James Last nimmt sie mit auf Welttournee. Sie singt in Kanada, Hongkong (vier Wochen!), Großbritannien, Spanien, Luxemburg und Österreich; im Berliner Sportpalast, in der Jahrhunderthalle in Frankfurt-Höchst, vor 12.000 Zuschauern in der Weser-Ems-Halle ...

Sie beteiligt sich an Festivals und Schlagerwettbewerben - beim Internationalen Liederfestival in Zoppot und wieder beim Deutschen Schlagerwettbewerb. Dort belegt sie mit" Alle Blumen brauchen Sonne" den zweiten Platz. Ihr frisch erworbenes Vermögen ermöglicht es ihr, sich den Traum vom eigenen Heim zu erfüllen. In Hoyerswege, unweit des Wohnorts ihrer Eltern im Landkreis Oldenburg, baut sie sich ein Haus. Bei der Grundsteinlegung mauert sie ihren ersten Plattenvertrag ein ...

"Das Haus ist für mich eine Art Festung, in der ich mich verkriechen kann. Irgendwo war auch alles eine Trotzreaktion, doch zu Leistung fähig zu sein. Man muss sich sein Plätzchen in der Gesellschaft erst einmal erkämpfen", schreibt Renate Kern in einem Brief vom 27. Januar 1972.

Die Plattenfirmen werben mit ihrer unscheinbaren, zurückhaltenden Art: "Renate führt ein einfaches und bescheidenes Leben. Sie bildet nicht den Mittelpunkt. Dafür stehen ihre Platten umso mehr im Brennpunkt!"

Das Image der Renate Kern beschreibt der Schlagertexter Günter Loose so: "Schon wegen ihrer burschikosen Ausstrahlung und ihrer etwas herben Stimme war sie in der deutschen Musikszene damals etwas Besonderes, und die klassischen Schlagerthemen passten nicht so recht zu ihr. Deshalb hatte man sich folgendes Konzept ausgedacht: Die Konsumenten sollten in ihr eine gute Freundin sehen, einen Kumpel. Also schrieb ich Texte, die entweder einen guten Ratschlag enthielten oder in irgendeiner Form Mut gaben, was meistens schon in der Titelzeile zum Ausdruck kam."

So wird Renate Kern zur "Seelentrösterin der Nation", zur "Königin der Provinz". Sie selbst kam jedoch weder mit diesem Image, noch mit der Karriere selbst zurecht.

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"Endlich habe ich ein bisschen Ruhe! Immerhin, es ist auch schon Mitternacht. Seit Sonntagmorgen bin ich in einer Tour auf Trab, was sich heute dadurch rächte, dass ich wieder beim Arzt landete zwecks "Aufmöbelung" mit Traubenzucker und Vitaminspritzen. Habe außerdem ein ganzes Fuder Beruhigungstabletten bekommen ... ", klagt Renate Kern in einem Brief am 4. Juli 1971.

Ein Leben lang ist Renate Kern auf der Suche nach Geborgenheit und Sicherheit. Sie tut immer das, was von ihr verlangt wird. Pflichtbewusstsein, Fleiß und Ehrgeiz bestimmen ihr Leben. Zurückhaltend und schüchtern wie sie ist, findet sie sich im Trubel und in den Mechanismen des Schlagergeschäftes nie wirklich zurecht. Sie hat eine sehr gute Stimme, aber sie lernt nie, sich richtig zu bewegen, zu kleiden oder verkaufen zu können.

Sie ändert ständig ihre Frisur und ihr Outfit. Das erschwert den Wiedererkennungswert und damit die Verkäuflichkeit ihrer Produkte.

Neben ihren klassischen Schlagern erweitert Renate Kern immer wieder ihr Repertoire um internationale Standards, Folklore und Chansons. Ihr größter Wunsch: Piaf-Lieder auf Platte aufzunehmen und damit ins seriösere Chansonfach zu wechseln. Ihre Plattenfirma versucht es, ihr auszureden: "Also wissen Sie, wenn wir Frau Piaf hören wollen, dann nehmen wir Frau Mathieu, aber bestimmt nicht Frau Kern. Die soll mit den Wimpern klimpern."

Renate Kern 5

Inzwischen aber ist die deutsche Schlagerbranche im Umbruch. Die Fernsehauftritte werden seltener, die Umsätze sinken - auch bei Renate Kern. Peter Orloff wird ihr neuer Produzent, der mit Titeln wie "Das macht diese Welt erst richtig schön" und "Morgen früh, da lachst Du schon wieder" noch einmal an ihre frühen Erfolge anknüpfen möchte. Polydor ist jedoch mit den Umsätzen nicht zufrieden. 1973 wird der Plattenvertrag gekündigt. Renate Kern gibt nicht auf und wechselt zur BASF. Mit Joachim Heiders "Wenn du gehst" gelingt ihr ein guter Einstand, doch alle weiteren Singles werden Flops. Die Karriere ist auf einem Tiefpunkt angelangt.

1974 heiratet sie den Toningenieur Klaus-Dieter Hildebrandt. Die Zeitungen schreiben "Eine Traumhochzeit, aber keine Hits". Nach ihrem letzten Auftritt in der ZDF-Hitparade 1974 will es die 29jährige genau wissen. Sie investiert knapp 10.000 DM in eine Umfrage, mit der sie das Meinungsumfrageinstitut "Gesellschaft für Kommunikation" beauftragt. Das Ergebnis: Mehr als 50 Prozent der Bundesbürger kennen die Sängerin. Besonders in der Provinz, so erfährt sie aus der Umfrage, ist sie der "Schutzengel aller Notleidenden, Vernachlässigten und Behinderten, der Rettungsanker aller Verlassenen und Hilflosen", wie es im inoffiziellem Wortlaut der Untersuchung heißt.

Sie versucht nun ihre Karriere in die eigenen Hände zu nehmen, betätigt sich als Komponistin, gründet einen eigenen Musikverlag, produziert mit ihrem Mann das Schlagerduo Mona & Michael. Doch alle Projekte scheitern. Also nimmt sie gemeinsam mit dem Ehemann einen neuen Anlauf. Im Obergeschoß ihres Wohnhauses richten sie sich ein mit modernsten Gerätschaften ausgestattetes Tonstudio ein. Die Gesamtinvestition beläuft sich auf 1,5 Millionen DM. Dort wird unter anderem Roger Whittaker einige seiner Platten aufnehmen. "Ich bin nur noch Köchin, Zimmermädchen, Bürokraft und Dienstbesen. Frust!", schreibt sie 1978. Ihre künstlerische Arbeit liegt brach.

Doch wieder gibt sich Renate Kern nicht geschlagen. Ein Discjockey von AFN-Bremerhaven gibt ihr den nötigen Anstoß, es doch einmal mit Country zu versuchen. 1980 reist sie auf eigene Faust für drei Wochen in die USA, sucht nach passendem Liedmaterial und nimmt in Nashville zwei Tage lang Countrysongs auf - mit einer blonden Perücke samt Cowboyhut und unter neuem Namen:

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Nancy Wood (zusammengesetzt aus Nancy Reagan und Nathalie Wood). Tatsächlich gelangt 1981 ihre Single "Imagine That" in die Billboard-Hot-100-Country-Charts. Mit diesem Erfolg und jeder Menge aufgenommener Songs kehrt sie nach Deutschland zurück. Doch es gelingt ihr nicht, auf dem kleinen deutschen Country-Markt wirklich Fuß zu fassen. Sie tritt auf Autobahnraststätten auf, bei Stadtfesten und hat eine Hörfunksendung bei Radio Bremen: "Nancy's Country Drive Inn".

Später, als sie bereits wegen schwerer Depressionen in der Klinik liegt, produziert sie diese Sendungen vor und tut so, als seien sie live.

1990 - die letzte Karriere-Station: Als Sängerin auf einem Fährschiff. "Helsinki-Stockholm und zurück, mein Tagesablauf seit zwei Wochen auf diesem Schiff", schreibt sie in einem Brief. "Ab 5.2. geht's Gott sei Dank wieder nach Hause. Drei Wochen bei diesem ungemütlichen Winter können sehr lang sein. Aber: die Arbeit ist gut. Erfolg ist auch sehr gut und man hat absolut nichts auszustehen. Country-Musik mit einer bulgarischen Tanz-Band ist auch was Neues, aber auch das geht."

1991 wird die stark depressive Renate Kern stationär in der Dr.-Heine-Klinik bei Bremen behandelt. Sie wird als nicht suizid-gefährdet entlassen. Bereits wenige Tage danach erhängt sie sich in ihrem Wohnhaus...